Kritik Stille Nacht in Gliesmarode • Ronald Schober
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Kritik Stille Nacht in Gliesmarode

Stern der 70er funkelt über „Stiller Nacht in Gliesmarode“

 

11.11.2023 – von Florian Arnold (Braunschweiger Zeitung)

 

Braunschweig. Das neue Winterheater-Musical von Eitner und Schanz lässt ein spießiges Weihnachtsfest im „entfesselten Jahrzehnt“ lustvoll eskalieren.

 

Ob den guten Walter Siedentopf sein Überschwang zu vorgerückter Stunde des Heiligen Abends am nächsten Weihnachtsmorgen reuen wird? Da steht er, befeuert von Mariacron und Eierlikör, auf dem Sessel und redet der freien Partnerwahl das Wort. Selbst wenn seine Tochter Carola Frauen liebe, sei das schon recht. Er liebe sie ja auch.

 

Da hat die „Stille Nacht in Gliesmarode“ ihren Siedepunkt erreicht. Christian Eitner und Peter Schanz haben ihr neues Braunschweig-Musical in frisch hochgezogenen Neubaublocks der 70er verortet. „Es lebt sich so modern in Gliesmarode“, schwärmt Ehepaar Siedentopf zur Melodie von Michael Holms Smash-Hit „Mendocino“. In seiner Wohnung findet sich alles in vorbildlicher Ordnung getaktet: der Weihnachtsbaum mit dem Zollstock ausgerichtet, das Flötenspiel von Tochter Carola wenn auch widerwillig absolviert, Hausfrau Doris in der Küche fertig. Und der Weihnachtsmann klingelt pünktlich.

 

Braunschweiger Wintertheater – Walter Siedentopf schwillt der Kamm

 

Dummerweise hat er den falschen Geschenkesack mitgebracht. Den für die Pasulkes, eine Etage tiefer. Walter Siedentopf, von Ronald Schober köstlich kantig explosiv kleinbürgerlich gespielt, schwillt der Kamm. Gelegenheit für den langhaarigen Langzeitstudenten im roten Mantel alias Markus Schultze nochmal sein „Merry Christmas“ zu schmettern. Neuer Sack aus dem Kofferraum gefischt, wieder falsch. Nochmal, Running Gag, „Merry Christmas“. Siedentopf fährt aus dem gestärkten Hemd. Er ist eh gereizt, weil der großspurige, auf Ami machende Vetter (Louie Bottmer) ein kaum 18-jähriges „Flittchen“ (Maike Jacobs) mit zur Familienfeier gebracht hat.

 

So bauen sich Spannungen in der Biedermeierkulisse auf, in Loriotscher Manier, allerdings angefacht oder aufgelockert, manchmal auch unterbrochen, von reihenweise 70er-Jahre-Hits. Die werden, wo immer sie passen, in die Handlung montiert, von Juliane Werdings „Conny Kramer“ bis zu Abbas „Dancing Queen“.

 

Die entfesselten 1970er

 

Ständige Bezugsgröße ist der Zeitgeist des „entfesselten Jahrzehnts“, wie es in einer der ironisch geschliffenen Moderationen von Peter Schanz heißt. Matthias Schamberger trägt sie auf Bildschirm-Zuspielungen als „Tagesschau“-Sprecher vor. Dass die bunte Schlaghosen-, braune Lederjacken- und handtellerbreite Krawatten-Ära sofort präsent ist, liegt augenscheinlich an den bis ins Kunstfell verliebte Detail geschneiderten Kostümen von Eva Huke.

 

Aber auch an der Schauspielkunst insbesondere von Ronald Schober und Kathrin Reinhardt. Er ein bisschen terrierhaft, sie pudelgelockt sich in die Hausfrauenhaft fügend, leise Sehnsucht nach Ausbruch verströmend. Julia Wunderlich gibt die zart aufmüpfige Tochter Carola. Maike Jakobs, Louie und Markus Schultze performen und glänzen vor allem als Sänger.

 

Softpornos und Klosterfrau Melissengeist

 

Es ist interessant, wie blümchentapetenhaft die 70er heute erscheinen. Dabei waren sie durchaus angespannt. Der Terror der RAF brachte das Land an den Rand des Notstands, Pop und Softporno florierten, alte Nazis lebten noch. Die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen waren scharf. Auch damals schon wurde der Untergang des Abendlands beschworen. Schanz streift solche Themen, in Moderationen, ansatzweise auch in Auseinandersetzungen der Protagonisten.

 

Aber Eitners und Schanz‘ Fest bleibt eines der Liebe. Dem in wunderbarem Satzgesang intonierten „Stille Nacht“ folgt nach der Pause ein furioses Liebeskarussell der mittlerweile vom Klosterfrau Melissengeist und anderen geistlichen Getränken enthemmten Siedentopfs. Die Mutter umwirbt den Studenten, der aber umgarnt die Tochter, die indes das Flittchen begehrt, das sich entschuldigend abwendet und Walter Siedentopf abblitzen lässt, den seine empörte Gattin beobachtet, der sich sogleich der machöse Vetter nähert – bis tatsächlich die Polizei kommt. Es ist ja doch „ein ehrenwertes Haus“, wie die Nachbarn meinen.

 

Insbesondere der zweite Teil des Abends zündet wirklich. In „Stille Nacht in Gliesmarode“ vereinen Eitner und Schanz mal wieder Volkstümlichkeit und Groteske, verschmitzte Komik mit Spuren von Tiefsinn. Und das musikgetrieben, wenn diesmal auch manches vom Band kommt. Allerdings nicht Keyboards und Schlagzeug, die Burkhard Bauche und Lutz Sauerbier versiert bedienen. Und die feine Gitarrenbegleitung von Markus Schultze. Die rund 600 Premieren-Zuschauer im großen und doch gemütlichen Wintertheater-Zelt gehen enthusiasmiert mit. Und nehmen einen Ohrwurm mit nach Hause: „Es lebt sich so modern in Gliesmarode“.

 

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